Oder: Eine Erfahrung der ganz anderen Art

Morgen vermutlich werde ich die Türkei verlassen und über eine kurze Strecke durch Griechenland nach Bulgarien skaten. Der richtige Zeitpunkt, eine Geschichte aus den letzten Tagen zu erzählen, die wenig Interessantes über die Türkei aussagt, viel mehr allerdings über Georgien. Es war irgendwo in der Provinz. Meine Unterkunft – eine billige Absteige. Was anderes habe ich nicht gefunden. Egal, eine Nacht geht alles. Man muss nur gelegentlich den kleinen Ekel  unterdrücken können. Was solls, es geht auch mal ein Abend ohne Ganz-Körper-Dusche. Und ob ich morgen unterwegs den frischesten Duft verbreite, ist wahrlich nicht entscheidend. Morgen Abend gibts dann wieder ein besseres Quartier…

Aber dann schleppt mich mein Gastgeber – ihn Hotelier zu nennen, wäre übertrieben – noch am späten Abend ab in eine seiner anderen Kneipen.Das hier ist der Treppenaufgang, viel versprechend. Nicht?

Dort oben in der Pinte warten dann, wen würde es überraschen, rund ein Dutzend Mädchen und Frauen – das gesamte Sortiment von jugendlich bis spätreif – auf männliche Kundschaft. Was denn? Ist Prostitution in der Türkei nicht verboten? Anscheinend gibt es selten ein Verbot, das man nicht erfindungsreich – und vermutlich auch unter staatlicher Aufsicht und Duldung – umgehen könnte. Bordelle gibt es natürlich nicht, auch das hier ist kein Bordell. Aber, wer prüft schon, wenn ein Hotelgast sich eine nächtliche Begleitperson mitbringt, die er in einem anderen Restaurant, einem wie diesem, getroffen hat, per Zufall natürlich getroffen hat? So funktioniert das anscheinend überall in der Türkei, wird mir erklärt, ein Geschäftsmodell.

Allerdings: In dem Kontakt-Restaurant, in das mich mein Absteigen-Besitzer, wohl wissend meiner Herkunft und meines Zieles, geführt hatte, sprachen die weiblichen Servicekräfte nur eine Sprache: Georgisch. Was für eine Überraschung, weit mehr als 1.000 km von der Grenze weg!!!! Und – ehrlich gesagt – was für ein Schock. Wirklich, es war ein Schock. Damit hätte ich nie gerechnet. Ein Beweis-Foto zu machen, habe ich mich nicht getraut, nur diese Treppe.

Aber mir drängen sich Fragen auf: Ist das eine Ausnahme irgendwo zwischen Istanbul und der bulgarischen Grenze, eine georgische Sex-Enklave? Bin ich jetzt mehr als 30 Tage geskatet, um ein paar wenige Georgierinnen zu treffen, die hier anschaffen (müssen)? Oder habe ich in den Wochen davor jede Menge ähnlicher Etablissements einfach übersehen, weil sie mir niemand gezeigt hat? Wie viele – plötzlich allein stehende – Frauen aus Georgien haben keine andere Chance, als auf diesem Weg ihre Kinder, die sie notgedrungen bei Oma und Opa parken mussten, mit ein paar Dollars im Monat zu unterstützen? Wie viele „Rumpf-Familien“  in den Vororten von Tiflis können nur deshalb überleben, weil ihnen die „Nataschas“ – so nennen , wie ich jetzt erfahren habe, türkische Freier die dienstbaren Geister*innen aus Georgien und der Ukraine – Monat für Monat den kärglichen Überschuss überweisen, den ihnen ihre Geschäftspartner hier übrig lassen. Und die Hauptfrage: Warum werden diese Fragen in Georgien öffentlich nie gestellt? Ist das ein allgemein akzeptiertes Tabu? Oder übertreibe ich hier maßlos, wegen eines Dutzend georgischer Dienstleisterinnen in der türkischen Provinz?

Ja, warum stelle ich mir hier eigentlich Fragen, die sich anscheinend keiner in dem Land stellt, in dem ich jetzt sechs Jahre gelebt habe? Obwohl das Thema für nicht gerade wenige Familien zum Alltag gehören dürfte? Ich werde wohl kaum Antworten bekommen. Die Fragen werden mich aber in den nächsten Tagen ganz sicher nicht los lassen. Und ich weiß: Mit diesem Blog habe ich mir ebenso sicher nicht nur Freunde gemacht. Aber: Diesen Abend kann ich nicht einfach weg skaten…

Kategorien: Martin's Logbuch